Auf Konferenzen und in den Medien ist aktuell überall von „Agiler Führung“ die Rede. Aber geht es dabei tatsächlich um einen Paradigmenwechsel in der gelebten Führungspraxis oder ist das nicht nur eine kleine Verschiebung des Schwerpunkts des bisherigen Führungshandelns?

Der Ruf nach einer neuen Art von Führung kommt aus den sich fundamental ändernden Rahmenbedingungen, denen Unternehmen in den letzten Jahren ausgesetzt sind: SMS waren lange das Brot- und Buttergeschäft der Mobilfunkbranche und wurden in wenigen Jahren von What‘s App und Co. abgelöst. Die Verkaufszahlen von Musik-CDs sind seit Jahren massiv rückläufig, wohingegen Spotify, Deezer oder Apple Music steigende Umsätze verbuchen. DVD- oder Videoverleihs findet man heute kaum noch im Straßenbild, stattdessen haben Unternehmen wie Netflix deren Kunden übernommen.

All diese Beispiele haben gemeinsam, dass durch Globalisierung und Sättigung der Märkte immer mehr Verdrängungswettbewerb zu beobachten ist. Nur wer im Markt echte Kundenprobleme mit seinen Produkten löst oder dies deutlich besser tut als die Konkurrenz, kann sich im Markt behaupten. In der Kombination mit hoher Vernetzung und schnellem Informationsaustausch der Konsumenten entstehen daraus durch Aufschaukelung teils dramatische Effekte. Da verliert ein Weltmarktführer wie Nokia innerhalb von drei Jahren jede Relevanz am Markt oder es geraten Marktwerte von gestandenen Unternehmen durch einen Shitstorm massiv unter Druck und zwingen die Unternehmen zum Handeln. Die Masse der gut vernetzten Konsumenten hat deutlich an Einfluß gewonnen. Es findet eine Machtverschiebung vom Anbieter zum Konsumenten statt.

Was Unternehmen unter diesen erschwerten Marktbedingungen helfen kann, hat Marion Eickmann beschrieben. Der folgende Artikel fokussiert darauf, was sich an Führung ändern muss, damit Unternehmen mit diesen Umwälzungen umgehen und diese für sich nutzen können.

„Die Zeit der Vordenker ist vorbei.“

Peter Kruse hat sich mit seinem Unternehmen nextpractice intensiv in verschiedenen Studien mit diesen Veränderungen beschäftigt und kommt zu dem Schluss, dass Unternehmen in solchen Marktsituationen nur dann bestehen können, wenn es ihnen gelingt, die kollektive Intelligenz aller Mitarbeitenden zu nutzen.

Die hohe Komplexität und die Schnelligkeit der Veränderungen führen dazu, dass es nicht mehr ausreicht, eine kleine Gruppe von „hierarchisch hochstehenden Vordenkern“ mit den wichtigen Entscheidungen zu betrauen. Es braucht die Kreativität und Erfahrung aller Mitarbeitenden, um kontinuierlich möglichst gute Ideen und Lösungen für die unternehmerischen Herausforderungen zu finden. Es geht also um das „Einbeziehen Aller“ in taktische und strategische Entscheidungen. Kruse sieht dabei im ersten Schritt selbstorganisierte Teams, die diese Aufgaben übernehmen und im zweiten Schritt intelligente Netzwerke, die Team-, Abteilungs- und Unternehmensgrenzen überschreiten.

Eigenverantwortliche Teams als erster Schritt

Agil arbeitende Softwareteams passen als erster kleiner Schritt gut in dieses Bild. Sie sollen eigenständig ihre Arbeit organisieren und über Implementationsvarianten und Details selbst entscheiden. Um jedoch die gesamte Organisation anpassungsfähiger zu gestalten, braucht es weitere Schritte: Cross-funktionale Teams können auch Verantwortung für Betrieb, Marketing, Vertrieb und Support von einzelnen Produkten übernehmen.

Abb. 1: Organisation in Silos oder crossfunktionalen Teams. © Christoph Lukas

Mit solchen Unternehmensstrukturen lassen sich sehr viele Entscheidungen, die heute von Führungskräften getroffen werden, zukünftig an der Basis, in den Teams treffen. Die Entscheidungen gewinnen an Genauigkeit, weil sie näher am Problem getroffen werden. Sie gewinnen an Geschwindigkeit, weil sie nicht erst die Hierarchieleiter hoch und die Ergebnisse der Entscheidungen diese wieder hinunter wandern müssen. Sie gewinnen außerdem an Qualität, weil im Team unter Einbeziehung verschiedener Blickwinkel entschieden werden kann. Darüber hinaus werden Menschen, die mehr Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative zeigen können, kreativer und bringen sich eher mit ihrem gesamten Potential ein.

Was sich einfach und bestechend anhört, erweist sich in der Praxis als schwierig und unbequem. Für die Mitarbeitenden, weil es jetzt gilt, selbst mehr Verantwortung zu übernehmen statt auf das Management zu schimpfen. Und für die Führungskräfte, weil es Vertrauen und Loslassen bedeutet.

Führung mit neuen Aufgaben

Haben Führungskräfte bisher ihre eigene Rolle oft über das Übernehmen von Verantwortung und das Treffen wichtiger Entscheidungen definiert, so kommt jetzt schnell die Frage auf: Was mache ich denn dann noch in meiner Rolle?

Mit dem „Einbeziehen Aller“ verändert sich die Rolle von Führung grundlegend. Stand bisher Fachkompetenz und das Übernehmen von Verantwortung im Mittelpunkt, geht es jetzt plötzlich darum, das Team zu befähigen, Entscheidungen selbst treffen zu können. Es geht also um die Bereitstellung von Information, die Moderation von Entscheidungsfindungen, das Definieren von klaren Zielen. Die Anforderung an Führung verschiebt sich stark von Fachkompetenz hin zu Prozesskompetenz. Das hat einige gravierende Auswirkungen.

Führungskräften fehlt dazu häufig schlicht das nötige Handwerkszeug und die Erfahrung. Statt klare Ansagen zu machen wo die Reise als nächstes hingeht, müssen jetzt Entscheidungsprozesse im Team moderiert werden, bei denen im Vorfeld nicht klar ist, in welche Richtung das Team entscheiden wird. Statt Lösungswege vorzugeben, muss jetzt indirekt über Ziele und Rahmenbedingungen geführt werden. Statt Informationen nur selektiv weiterzugeben, geht es jetzt darum, das Team mit allen notwendigen Informationen zu versorgen, damit es Entscheidungen selbst treffen kann.

All dies sind neue Aufgaben von Führung. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müssen Menschen in Führungspositionen ein neues Rollen- und Selbstverständnis entwickeln. Das stellt sie vor vielfältige Herausforderungen: Können sich Führungskräfte für die Aufgaben in klassisch hierarchischer Führung auf eine Vielzahl von Beispielen aus Unternehmen der Vergangenheit und Gegenwart stützen, so ist das für die neue Art der Führung viel schwieriger. Auch hierfür gibt es zwar gute Beispiele, allerdings sind diese nicht annähernd so präsent. Und selbst wenn ich als Führungskraft davon überzeugt bin, dass diese neue Art von Führung zielführend ist: was passiert, wenn ich in einem Unternehmen unterwegs bin, in dem das nicht alle Führungskräfte so sehen? Wie viel Selbstvertrauen ist nötig, um bei Misserfolgen auf dem Weg zu mehr Verantwortung im Team gegen die Kritik der KollegInnen an der eigenen Führungspraxis zu bestehen? Unserer Erfahrung nach kann diese Art der Führung nur dann im Unternehmen erfolgreich sein, wenn es durch alle Führungsebenen ein Verständnis für den nötigen Wandel verbunden mit einer hohen Lernbereitschaft gibt.

Wertschätzung als Motivation

Abseits von fehlenden Beispielen und mangelnder Erfahrung spielen aber bei der Umsetzung von agiler Führung auch ganz persönliche Themen der Führungskräfte eine Rolle. Bekomme ich bisher meine Wertschätzung im Unternehmen vor allem für das Treffen von wichtigen, womöglich auch unbequemen Entscheidungen, so versiegt diese Wertschätzungsquelle im neuen Führungsbild weitgehend: Anerkennung gab es bisher für gute Entscheidungen. Wertschätzung für das Schaffen von guten Rahmenbedingungen für Teams ist aktuell noch eher die Ausnahme.

Wertschätzung ist für die meisten Menschen ein wichtiger Faktor für die eigene Motivation. Fällt diese weg, kann dies für agile Führungskräfte zu Frust und Unzufriedenheit führen. Soll agile Führung in Unternehmen erfolgreich sein, so gilt es, diesem Aspekt Aufmerksamkeit zu widmen und für genügend Wertschätzung und Anerkennung zu sorgen.

Den Blickwinkel erweitern

Bei der Arbeit mit Führungskräften auf dem Weg mehr Verantwortung in die Teams zu geben, begegnet uns immer wieder die Aussage: „Das ist ja alles schön und gut, aber mit unseren Mitarbeitenden geht das nicht. Die Leute wollen einfach keine Verantwortung übernehmen.“ Hinter dieser Aussage steckt meist eine vorschnelle Verurteilung. Um Entwicklung zu ermöglichen, lohnt es sich vielmehr, zu hinterfragen, warum Menschen im Arbeitskontext keine Verantwortung übernehmen: Fehlen Informationen, um selbständig Entscheidungen treffen zu können? Gibt es einen klaren und kommunizierten Rahmen, in dem das Team selbst entscheiden kann? Werden Menschen bei Fehlern abgestraft oder werden diese in der Organisation als Chance zum Lernen verstanden? Sind die Ziele des Teams klar definiert und allen Beteiligten bekannt? Wird den Menschen vertraut und etwas zugetraut?

Abb. 2: Systemische Sicht – Wie sieht mein Gegenüber auf die Welt? © Christoph Lukas

Hinter diesem Schritt steckt allerdings deutlich mehr als auf den ersten Blick sichtbar wird. Für die Führungskraft geht es darum, eine systemische Haltung einzunehmen statt Einzelne zu verurteilen. Also den Blickwinkeln zu erweitern und auf das Unternehmen als System zu schauen: Das Verhalten der Beteiligten folgt keinen einfachen Kausalzusammenhängen. Als Führungskraft gilt es, das System aus Sicht des Gegenübers zu erkunden und zu versuchen zu verstehen, was die Person zu ihrem Verhalten bewogen hat. Gelingt das, gewinnt man dadurch Erkenntnisse über die Rahmenbedingungen und darüber, wie man als Führungskraft helfen kann, diese so zu verändern, dass sich das Gegenüber auch konstruktiver verhalten kann. Zugrunde liegt dieser Herangehensweise eine grundsätzlich wertschätzende Haltung den Mitarbeitenden gegenüber und ein fast bedingungsloses Vertrauen auf deren positiven Willen sich einzubringen. Weniger Urteilen, mehr Beobachten, Zuhören, Verstehen wollen. Dabei geht es häufig auch um die Frage, welchen Einfluss mein eigenes Verhalten als Führungskraft darauf hat, ob Menschen in Teams Verantwortung übernehmen.

Psychologische Sicherheit als Fundament

Google hat mehrere Jahre intensiv untersucht, was effektive Teams bei Google von weniger effektiven unterscheidet. Die zentrale Erkenntnis aus dieser Studie ist, dass der mit Abstand wichtigste Erfolgsfaktor für Teams eine Atmosphäre der psychologischen Sicherheit ist. Nur wenn Menschen in Teams das Gefühl haben, sich mit all ihren Stärken und Schwächen im Team einbringen zu können und als Ganzes akzeptiert zu werden, werden wirklich alle Ideen ausgesprochen. Nur wenn niemand fürchten muss, für Misserfolge oder Fehler bloßgestellt zu werden, bringen die Menschen sich wirklich mit ihrem ganzen Potential ein. Und nur dann kann das Team die Kreativität aller nutzen, um schnell neues Wissen zu erwerben.

„Es gibt wenige fortschrittliche Beispielunternehmen, dafür aber immer noch viele (erfolgreiche) Unternehmen mit klassischer Führung.“

Führungskräften fällt in diesem Kontext die Aufgabe zu, für die Schaffung einer solchen Atmosphäre zu sorgen. Dazu ist es nötig, dass sie sich um die Einhaltung von Grundwerten kümmern: Dass die Mitglieder des Teams respektvoll miteinander umgehen, dass Dissens konstruktiv bleibt, dass Konflikte zügig angegangen und geklärt werden und dass bei Misserfolgen auf eine Lernerkenntnis statt auf die Suche nach einem Schuldigen fokussiert wird. Darüberhinaus trägt zur Schaffung einer solchen Atmosphäre erheblich bei, wenn sie dem Team gegenüber offen mit den eigenen, persönlichen Herausforderungen, Schwierigkeiten und Schwächen umgehen. Führungskräfte, die vor dem Team über eigene Fehler sprechen, ermutigen alle, solche Situationen als Chance zum Lernen und nicht als Misserfolg zu sehen. Ein solches Verhalten wird aus dem klassischen Führungsverständnis heraus häufig jedoch als Weichheit oder Schwäche gesehen und ist üblicherweise nichts, was von Führungskräften erwartet wird.

Im Zweifel wie früher

Viele der hier beschriebenen Haltungen und Methoden agiler Führung bedeuten einen radikalen Bruch mit dem bisherigen Führungsverständnis. Wir alle sind von unserem eigenen Werdegang und dem gesellschaftlich gängigen Bild von Führung geprägt. Dieses Bild entstammt im Wesentlichen dem Industriezeitalter und den Theorien von Taylor, bei denen eine kleine Gruppe von „Vordenkern“ für den Rest der Belegschaft Strategien beschlossen und Entscheidungen getroffen hat. Dieses heute in den allermeisten Unternehmen noch gängige Führungsverständnis steckt also bei der großen Mehrheit von uns tief „im Rückenmark“. Führungskräfte, die sich auf den Weg machen und versuchen, die Haltung und Methoden agiler Führung zu erlernen, beschreiten dabei einen durchaus beschwerlichen Weg: Es gibt wenige fortschrittliche Beispielunternehmen, dafür aber immer noch viele (erfolgreiche) Unternehmen mit klassischer Führung. Als Kompass steht den Führungskräften daher meistens nur das agile Wertesystem und ihre eigene, frische Erfahrung zur Verfügung und spätestens im Projektstress und unter Zeitdruck ist die Gefahr groß, in alte Muster zurückzufallen.

Fazit

Um in den unternehmerischen Herausforderungen der nächsten Jahre zu überleben, müssen Organisationen Wege finden, um möglichst alle im Unternehmen einzubeziehen und die kollektive Intelligenz im Unternehmen zu nutzen. Dafür braucht es in viel höherem Maß als bisher eine hohe Prozesskompetenz bei Führungskräften, eine andere Führungshaltung und neue Führungswerkzeuge. Der Weg dorthin bedeutet die Abkehr von bisher Erlerntem und damit ein hohes Maß an Selbstreflexion und Lernbereitschaft, um vor allem eine andere Haltung gegenüber den Mitarbeitenden einzunehmen.

Dieser Paradigmenwechsel in Führung ist allerdings nichts, was sich nur die Agilisten auf die Fahnen schreiben können. Schon in den Managementansätzen von Malik [1] und Hamel [2] finden sich Elemente dieser Sichtweise. Konnten Unternehmen bisher aber auch gut ohne agile Führung erfolgreich sein, so wird diese Art zu führen zum Fundament, wenn es darum geht, Agilität und Adaptionsfähigkeit ins gesamte Unternehmen zu tragen.

Das agile Wertesystem hilft bei dem notwendigen Paradigmenwechsel als Kompass. Er muss aber durch eine Veränderung der Unternehmenskultur sowie vielfältige Weiterbildungs- und Coachingangebote aktiv gesteuert und vorangebracht werden.

Quellen

[1] Prof. Dr. Fredmund Malik, 2015: Strategie des Managements komplexer Systeme
[2] G. Hamel, B. Breen, 2007: The Future of Management

Zuerst veröffentlicht auf Informatik Aktuell am 17.4.2018

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